Das Lager
Von Oscar K.
Illustriert von Dorte Karrebæk

7.5.2010
Impressum:
Dank an Sigvard Bennetzen, Kulturministerium, und an das Autorenkonto



Die Kindheit wiederfährt jedem

1.
Es ist ja zu deinem Besten, sagten sie.

Und nun scheint die Sonne.
Ein Spätnachmittag in den Sommerferien.
Die Kinder kommen in Bussen und Eisenbahnwagen an.

Sie stehen auf dem Platz vor den leeren Garagen und warten.

Sie tragen kleine Koffer und Taschen
und um den Hals ein Schild mit ihrem Namen.

Es war eine lange Reise.
Sie sind müde, hungrig und schmutzig.

John hat Verstopfung.
Er war seit vier Tagen nicht auf dem Klo.

-

Das lange Mädchen mit dem schwarzen Haar
möchte sich die Hände waschen.
Sie spielt Violine, sagt sie.

Anton zählt, wie viele sie sind,
das ist schwer,
es kommen ständig neue dazu.

Harry gibt Elvira sein Taschentuch.
Sie hat Nasenbluten bekommen.

Hamid albert mit einem flachen Gummiball herum.
Er hat weder Koffer noch Tasche dabei.

-

Rakel fragt, wo sie sind.
„Überall“, antwortet einer. „Nirgends“.
Und wo sollen sie hin?
Ins Lager.

Sie gehen das letzte Stück.
An der geschlossenen Post geradeaus
und dann rechts den Weg an den Feldern und Birken entlang.

Vielleicht gibt es hier Reiher,
denkt John.

Vor dem Lager stellen sie sich hinten an
in der langen Reihe von Kindern,
die vor ihnen angekommen sind.

-


Ganz vorne stehen die Erwachsenen und geben ihnen Nummern.
„Zwei-neunundneunzig! Grooße Nummer!“

Die Kinder müssen ihre Koffer und Taschen abgeben.
Das lange Mädchen will seine Violine behalten.

„Nit mö-ö-glich“, sagen die Erwachsenen,
aber später bekämen sie sie wieder.
Sie teilen die Kinder auf
in die, die ins Waschhaus sollen,
und die anderen, die von der Dämmerung verschlungen werden.

John putzt sich mit Spucke den Mund ab
und schüttelt das Haar, so dass es ordentlich sitzt.
Er hat sich schon ausgerechnet, wer weitergeht.
Wie in der Schule.

Elvira geht nicht weiter, denkt er.
Und das tut sie auch nicht.

Aber Harry, Hamid, Anton und Rakel
und das Mädchen mit der Violine.
Oder jetzt – ohne.

Anton macht seinen Koffer auf.
Er hat einen mechanischen Vogel,
der Stunden und Tage zählt.
Von dem möchte er sich nicht gerne trennen.

Aber er kriegt ihn ja wieder,
sagt Rakel.
Sie bräuchte bald mal was zu essen.

-

Hamid hat eine Kette mit Fatimas Hand um den Hals.
Er mag keine Erwachsenen.
Ihre Fressen sehen aus wie die von Affen,
und sie stehlen die Sachen anderer.
Gut, dass er sonst nichts dabei hat!

Harry denkt einen Moment daran abzuhauen
wie damals vom Kinderheim,
bleibt aber trotzdem stehen.
Du bleibst hier, Harry!
Es ist zu spät.

Dann gehen sie durch das Tor ins Lager
und in das Waschhaus.

Über dem Tor steht: „Die Liebe besiegt alle.“

-

Im Waschhaus müssen sie ihre Sachen ablegen,
Schuhe für sich und Mäntel, Strümpfe, Hemden, Hosen und Kleider in Stapeln.
- auch die Unterhosen.

Die Erwachsenen nehmen ihnen alles ab, auch ihre Namen.
Jetzt müssen sie sich selbst an sie erinnern.

Dann kommt einer, der ihnen die Haare schneidet.
Mit einer elektrischen Rasiermaschine gegen Läuse und Flöhe.
Wenn sie so viele sind, kann leicht eine Epidemie ausbrechen,
denkt John. Wie als er in die vierte Klasse ging.

Hinterher können sie sich fast nicht wiedererkennen.
Sie stehen ein bisschen geniert herum und gucken.
Rakel sieht entsetzt das lange Mädchen an.

-


Einer der Erwachsenen kommt auf Harry zu
und streckt ihm die Hand entgegen.
Wir mögen dich doch, Harry!
Harry fürchtet, dass er ihm die Wange streicheln will.

Jetzt müssen sie aber ins Bad! Dalli!
Sie dürfen das Wasser nicht trinken. Dann werden sie krank.
Und nichts verschwenden.
Auch keine Seife.

Es gibt keine Handtücher,
aber sie bekommen Turnschuhe und Unterwäsche und einen Kittel, der so einigermaßen passt,
einen Becher und einen Löffel.

-

Es ist dunkel geworden. Die Luft ist mild.

Die Kinder gehen in einer Reihe an den Baracken vorbei.
Sie haben die Namen
Glockenblume, Gänseblümchen, Himmelsschlüssel.

Vor Butterblume stehen einige Erwachsene
und schöpfen Suppe aus einem großen Topf.

-

Draußen steht ein Grüppchen Kinder
mit kleinen Nummern, abstehenden Ohren, spitzen Nasen
und listigen Augen.
Sie schubsen sich und stehlen sich gegenseitig das Brot.

Pack, denkt Harry
und lässt Rakel vor sich drankommen.

Das Brot ist trocken. Die Suppe dünn und trübe.

Das lange Mädchen winkt ab.
Rakel, Anton und John wollen auch nichts.
Sie schütten die Suppe auf die Erde und schmeißen das Brot weg.

Die anderen stürzen sich darauf wie Ratten
und stopfen es in den Mund.

Harry und Hamid essen die Suppe
und stecken das trockene Brot ein.

-

Butterblume.

Da sollen sie wohnen.
Zusammen mit denen mit den kleinen Nummern, die schon lange im Lager sind.
Der Anführer gibt jedem eine Decke
und zeigt ihnen, wo sie schlafen sollen.

„Eine Schlafkoje für sechs Leute?“

„Und ein Klo für zweiundvierzig“, sagt er
und zeigt auf die Kloschüssel an der Tür.

Dann wird das Licht ausgemacht.

-

In der oberen Schlafkoje ist nicht viel Platz.
Sie können sich nicht mal setzen.

Anton liegt mit Hamid ganz innen,
dann das lange Mädchen, Rakel und Harry,
und ganz außen John.

Sie sind still
und bewegen sich so wenig wie möglich.

-

Ma’ariv, der du uns die Dunkelheit gibst.
Die Kleinsten murmeln ein Gebet,
die anderen haben schon längst das Beten aufgegeben.
Hamid muss nur an den Vater denken,
der wegen seiner Heimat rumflennt,
Allah Akbar…

„Ich bin hungrig“, flüstert Rakel.
Harry gibt ihr sein Brot.
Hamid teilt mit den anderen,
aber John möchte nichts.

Anton lehnt seinen Kopf gegen den Holzpfosten.
Er möchte seinen mechanischen Vogel wiederhaben.
Wie soll er sonst die Stunden und Tage zählen?
Er zieht heimlich den Löffel aus der Tasche
und kratzt damit eine Kerbe in die Wand.
Ein Tag.

-

Das lange Mädchen starrt in die Dunkelheit hinauf.
Es atmet fast nicht
um nicht die anderen zu berühren.
Im Internat gab es im Schlafsaal für jeden ein Bett.
Und Musikstunden.
Sie hasste die anderen Stunden.
Die Blicke der Lehrer. Und die Scham, wenn sie abgehört wurde.
Das Kichern der anderen.
In den Musikstunden waren sie still.

Hamid hat sich eingerollt wie ein kleiner Hund.
nicht den Weg derer, die Deinen Zorn erregt haben, und nicht den Weg der Irregehenden,
und schläft schon.
Im Asyl konnte er im Stehen schlafen,
wenn es sein musste.
Rakel kuschelt sich an Harrys Rücken
und schläft auch ein.

John liegt nur da und denkt an Reiher.
Er kann nicht schlafen.
Er tut nur so und horcht auf die anderen, die leise aufstehen und pinkeln gehen,
und hält ein, bis alle schlafen.

Rakel dreht sich unruhig um.

Sie träumt von dem Sommermorgen,
als sie die Tür zum Schlafzimmer von Tante und Onkel öffnete
und schnell wieder zumachte.
Sie hatte etwas Schreckliches gesehen:
Vor dem Spiegel saß eine glatzköpfige Frau in einem roten Morgenmantel.
Erst viel später ging ihr auf,
dass die Frau ihre Tante war,
die sonst immer wuscheliges Haar hatte.

-

Es ist still in der Baracke.
John kann die anderen atmen hören,
irgendwo flüstert einer im Schlaf.
Aber warum nicht? Darum nicht. Darum nicht, sage ich doch.
Der Schlaf ist leicht wie ein Schleier.


John hievt sich aus dem Etagenbett und schleicht zum Klo.

Wie ein Trompetenton dringt ein scharfer, roter Strahl auf den Fußboden.
Die Sonne geht auf.
John presst die Hände gegen den Bauch und drückt verzweifelt.

Dann wird das Licht angemacht.

„Wstawatsch!“ Es ist die heisere Stimme des Anführers. „Aufgestanden!“


-

Draußen strahlt die Sonne.
Das Orchester spielt.

Alle stürzen auf den Platz vor den Baracken
und stellen sich in einer Reihe auf.
Trommelwirbel. Immer schneller.

-

Die Erwachsenen rufen auf:

„Null-achtzehn!?“

„Hier!“

„Null-neunundfünfzig!?“

„Hier!“

„Drei-fünfzehn!?“

Das ist Harry. „Hier!“

Drei sechzehn!? John. Drei-elf! Die Lange. Drei-vierzehn. Rakel. Drei-zwölf, Drei-dreizehn. Hamid. Anton…
Im Trupp mit Krzysztof, dem Anführer, Null-achtzehn.

Es wimmelt von Kindertrupps auf dem Weg zur Arbeit und Erwachsenen, die die Kranken wegtragen.


-

Krzysztof läuft los. „Kommt“.
Den Zaun entlang.
„Finger davon“, flüstert er heiser. „Der ist elektrisch.“

„Im Asylzentrum mussten die Neuen auf den elektrischen Zaun pinkeln“,
grinst Drei-zwölf, Hamid,
und hätte fast einen armen Kerl in einer Schar Gespenster umgerannt,
die einhergewackelt kommen.

„Die Schattenskelette“, flüstert Krzysztof,
Null-achtzehn.
„Vergesst sie.“
Sie sollen Pferde machen,
Bürsten in das Loch für den Schwanz stecken
und sie anmalen.

Alles steht auf dem Tisch unter dem Schutzdach bereit:

Pferde, über hundert, die nach Sägemehl riechen,
Bürsten,
Töpfe mit Leim,
Blechdosen mit Farbe,
Pinsel.

-
„Fast wie im Werkunterricht“,
sagt Drei-sechzehn John.

„Ja“, flüstert Krzysztof. „Fangt an!
Wir müssen sie alle schaffen.
Sonst kommen wir ins Loch.“

„Leck mich am Arsch!“, grinst Drei-zwölf, Hamid,
und klatscht einen Klecks Leim auf für die Bürsten.
Platsch!


„Wie wär’s mit ‚ner Pause?“,
fragt Drei-dreizehn, Anton.

„Und Essen?“ sagt Drei-vierzehn, Rachel,
kriegen wir nichts zu essen?

Null-achtzehn antwortet nicht. Er arbeitet.
Das tut Drei-fünfzehn, Harry, auch,
der für seinen Vater arbeitete,
als der nach der Scheidung Recht auf ihn hatte.
Du weißt ja, dass ich dich lieb habe, Harry.
Und was kann man schon gegen Liebe machen?


Dem langen Mädchen tut die Hand vom Malen weh.
Sie haben alle Durst.
Auch Null-achtzehn.
Aber sie sagen nichts.
Die Erwachsenen beobachten sie.

Am Abend essen Drei-vierzehn, Rakel, und die anderen ihre Suppe und ihr Brot.
Sie freuen sich mit jedem Tag mehr darauf
und warten darauf, dass nichts passiert.



Eines Morgens sollen sie in der Baracke bleiben.
Die Erwachsenen holen Drei-elf,
das lange Mädchen, von dem keiner weiß, wie es heißt.
Teresa.
Sie weiß es noch selbst.



Der Inspektor und die Kommission kommen.

Zuerst wird sie gewaschen und bekommt saubere Sachen und eine Perücke angezogen.

Dann schminken sie sie und geben ihr die Violine
und eine Zigarette.

Sie soll ein Konzert geben.


„Wie schön sie ist“, flüstert Drei-vierzehn.
„Sie spielt für uns“.

Ja, denken die anderen, das werden wir nie vergessen.

Nach dem Konzert legt einer der Erwachsenen Teresa eine Jacke über die Schultern.

Später, als sie wieder Drei-elf ist,
das lange Mädchen ohne Violine und Perücke,
lächeln sie ihr verlegen zu,
aber sie sieht es nicht.



Eines Morgens finden die Erwachsenen Drei-elf.
In der Nacht ist sie hinausgelaufen und hat sich gegen den Zaun geworfen.


Jeden Abend kratzt Drei-dreizehn eine Kerbe in die Wand.
Sie sind nun hundertsiebenundvierzig Tage im Lager.
Er hustet.
Es zieht in seiner Brust.

Draußen hat es angefangen zu schneien.
Alles wird still.
Weiß ist die Farbe des Frostes.
Die Birken.
So merkwürdig ruhig.

Nachts stecken sie die Finger in den Mund,
die Hände in die Achselhöhlen und zwischen die Schenkel
und tauschen die Plätze, um sich warm zu halten,
wie im Winter die Bienen im Bienenstock.

Drei-dreizehn bekommt hohes Fieber
und muss in der Baracke bleiben.
„Lungenentzündung“, sagt Null-achtzehn.
Er kennt es von anderen Wintern.

Drei-sechzehn holt Suppe und Brot für Drei-dreizehn.
Er trinkt unterwegs von der Suppe und steckt das Brot weg.
Drei-dreizehn kann ja doch nichts anderes als die Suppe runterbringen.

„Den Löffel“, flüstert er
und macht eine Kerbe in den Pfosten,
bevor er einschläft.

-

Nachts spricht er im Fieber:
Halleluja! Ich komme zu spät!
Oh jemineh, es ist ja schon spät geworden …
Die Lungen pfeifen.


Drei-zwölf leiht sich den Hut von Drei-dreizehn,
und an den nächsten Tagen teilen sie sich sein Brot
und verkaufen seine Suppe an einige der anderen Baracken für ein Unterhemd für Drei-vierzehn,
ein Feuerzeug und ein paar Lappen gegen den Frost.

Null-achtzehn sammelt Moos,
das er in eine leere Farbdose mit Löchern drin steckt,
und anzündet.

Null-zwanzig lässt ein Pferd mitgehen.

Dann kommt Drei-dreizehn wieder zu sich.
„Wie lange bin ich krank gewesen?“
fragt er,
doch keiner weiß es mehr.
„Dann haben wir keine Ahnung, wie lange wir schon hier sind“,
murmelt er.


„Ich kann dir etwas vorlesen“, sagt Drei-zwanzig.
Er hat das Pferd für ein Buch verkauft,
das so abgenutzt ist, dass die Buchstaben unlesbar geworden sind,
und er selbst eine wunderbare Geschichte erfinden muss.
Aber Drei-dreizehn hört nicht zu.

-
Und Null-achtzehn kommt mit Suppe,
die er von den Skelettschatten gestohlen hat,
denen ist es sowieso egal.
Es hilft aber nicht.
Drei-dreizehn kümmert vor sich hin.

Eines Morgens fällt er auf dem Weg zu den Pferden aus der Reihe
und trippelt zusammen mit den Durchsichtigen.




Am Abend entdeckt Drei-fünfzehn ein Eichhörnchen.
Es ist nicht besonders groß. Ein Junges.
Es sitzt draußen im Schnee
und guckt ihn an.

Er wirft ihm ein Stückchen von seinem Brot zu.
Es frisst es.
Mümmelt.

Drei-fünfzehn sagt niemandem etwas davon,
aber er denkt an das Eichhörnchen,
bevor er einschläft.

Am nächsten Abend ist es wieder da.
Drei-fünfzehn füttert es.
Vielleicht wird es ja zahm.
Vor langer Zeit hat er sich einmal einen Hund gewünscht…
Keine Tiere, Harry!
Das Eichhörnchen frisst ihm aus der Hand,
klettert an seinem Arm herauf
und kuschelt sich an ihn.

Drei-fünfzehn versteckt es unter seinen Kleidern
und nimmt es mit herein.

„Ist das lieb“, flüstert Drei-vierzehn,
als das Licht ausgemacht wird.
„Wie heißt es?“
Lilja heißt es, Lilja.
„Wir halten es geheim, nicht? Und passen drauf auf.“

Sie lächeln, geben ihm Brot und spielen mit ihm.
Und halten es warm.


-
Tagsüber haben sie es dabei.
Dann läuft es auf dem Tisch herum und in einen Baum hinauf.
Manchmal ist es so lustig,
dass sie einfach lachen müssen.

-
„Worüber lacht ihr da?“, fragt der Erwachsene,
der ein Auge auf sie hat.

Sie gucken weg.

„Nichts“, sagt Drei-sechzehn, „hier gibt es nicht so viel zu lachen.“
Das Eichhörnchen versteckt sich hinter seinem Turnschuh.
Einen Augenblick zögert der Erwachsene.
Dann schlägt er, so dass Drei-sechzehn umfällt.
Das Eichhörnchen hockt da und guckt in den Schnee.

Drei-fünfzehn will es fangen, aber der Erwachsene ist schneller.
Er wirft das Eichhörnchen in die Dose mit Moos und Gluten
und schwingt sie herum.
Herum und herum und herum.


-
Hinterher kommt Drei-sechzehn ins Loch.

Drei-fünfzehn kann selbst bestimmen,
es dreht sich um dich, Harry, um dein Leben,
er kann es nicht ganz ernst nehmen,
dass nur das, was er will, etwas bedeutet,
aber er nimmt die Jacke an.

Drei-vierzehn friert,
Drei-fünfzehn ist es egal.
Er ist jetzt warm angezogen.

-

Drei-sechzehn ist nicht
zum ersten Mal im Loch.

Er ist daran gewöhnt eingesperrt zu sein.
Von zu Hause.
Und der Schule.

Es macht ihm nichts aus.
Wenn er bloß er selbst sein kann.

Er mag Einsamkeit
und Schneereiher.

-
Er genießt es allein zu sein,
ihm ist es egal, wann sie ihn rauslassen.
Er wird ein trauriges Gesicht aufsetzen,
so dass sie richtig sehen können,
dass die Erziehung etwas gebracht hat.

Dann knirscht der Schlüssel im Schloss,
und ein Erwachsener lässt ihn raus.


-
Immer mehr verschwinden,
und eines Tages ist Null-achtzehn auch weg.
Des Nachts hören sie draußen Musik.

„Wir müssen ganz still sein“, sagen sie sich,
„keinen Mucks, lieber sich in den Arm beißen.“

„Menschenbisse sind gefährlich“, flüstert Drei-vierzehn,
und sie beißen sich in die Arme um mucks-mäuschenstill zu sein.
Jetzt spielt das Orchester laut und deutlich.

Drei-sechzehn muss sich runterhieven.

-

Die Musik donnert los. Tschingderassassa!
Dann wird die Tür aufgerissen,
und sie werden in die Dunkelheit gejagt.

Trommelwirbel und Pikkoloflötentriller. Immer schneller. Immer lauter.
Plötzlich hört die Musik auf.

Drei-sechzehn sitzt ganz still,
er will sich an etwas Gutes erinnern,
an Schneereiher,
einen roten Strahl, der scharf auf den Boden fällt,
eine heisere Stimme, die ruft:
„Wstawac! Aufgestanden!“

Aber es passiert nichts.


-
Dann sind draußen Rufe zu hören.

„…Herzlichen Glückwunsch!“

„Drei-zwölf?“

„Hier!“

„Herzlichen Glückwunsch!“

„Drei-dreizehn…Drei-dreizehn? … Drei-vierzehn!“

„Hier!“

„Herzlichen Glückwunsch!“

„Drei-sechzehn? Drei-sechzehn…“

Draußen auf dem Platz
stehen die anderen Kinder
in etwas zu großen Jacken und schwarzen Mützen.
Der Inspektor beglückwünscht sie zum Examen.


Drei-sechzehn friert.

Im Laufe des Tages fahren draußen die Planierraupen herum und räumen auf,
als sollte alles dem Erdboden gleichgemacht werden.

Er weiß nicht, wie lange er da sitzt,
Stunden oder Tage,
und er kommt nicht mehr auf seinen Namen,
„Drei-sechzehn“, wiederholt er, „Drei-sechzehn.“
Gegen Mittag macht er die Tür auf.


-
Es ist Frühling. Milchig. Neblig.

Der Zaun ist weg.
Die Erde ist mit Sägemehl bedeckt.
„Drei-sechzehn“, murmelt er. „Drei-sechzehn …“

Er kann den Umriss von einem Grüppchen durchsichtiger Gespenster
in zerlumpten Kitteln erkennen,
die sich nähern.
Einer von ihnen hat einen mechanischen Vogel mit einem gebrochenen Flügel in der Hand.
Der Skelettschatten legt seine Hand auf seinen Arm
wie eine vorsichtige alte Fledermaus
und flüstert ihm etwas zu.
Aber er erkennt ihn nicht.

Ein Erwachsener rennt verwirrt herum und ruft: „Lilja, kleine Lilja!“


Drei-sechzehn kann gehen,
aber er weiß nicht wohin.

Auf dem Feld steht ein Schneereiher.

Was hatte das Gespenst noch geflüstert? Jo … Joh? John!

Dann geht er, John.



Und nun scheint die Sonne.
Ein Spätnachmittag in den Sommerferien.
Die Kinder kommen in Bussen und Eisenbahnwagen an …

-


Aus dem Dänischen von Ursula Kleinen